Lost Places & Unlost Places -   Baltikum

Schlösser, Burgen, Gutshäuser

Herrenhäuser im Baltikum - Einführung

Mit dem Überqueren der unscheinbaren Grenze von Litauen nach Lettland betritt der Reisende auch das historische Gebiet des Deutschen Schwertbrüderordens aus dem sich später die drei unter russischer Herrschaft stehenden aber deutsch verwalteten Gouvernements Kurland, Livland und Estland und daraus wiederum die heutigen Staaten Lettland und Estland bildeten. Das baltische Ordensgebiet erstreckte sich ab dem 13. Jahrhundert als (Alt-) Livland ungefähr von der litauisch-lettischen Grenze im Süden bis an den Finnischen Meerbusen im Norden und von der Ostseeküste bei Liepaja (dt.: Libau) und der Rigaer Bucht im Westen bis an den Peipussee und seine Zu- und Abflüsse im Osten. Durch kriegerische Auseinandersetzungen wechselte die Region in der Geschichte mehrfach seine Zugehörigkeiten und Grenzen. Teile gehörten unter anderem Namen zeitweise zu Polen-Litauen oder standen unter dänischer, schwedischer oder russischer Herrschaft. Nach langen Auseinandersetzungen zwischen Schweden und Russland ging Livland durch den Frieden von Nystad 1721 gänzlich an Russland. Durch Zar Peter den Großen wurden in der Nachbarschaft zu den russischem Gouvernements Witebsk, Pskow und Sankt Petersburg die Gouvernements Kurland, Livland und Estland unter der Verwaltung des deutschbaltischen Adels gebildet. Diese Struktur hatte bis zum Ende der Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Russland im I. Weltkrieg mit dem Vertrag von Brest-Litowsk 1918 Bestand und wurde erst in der Unabhängigkeitsbewegung der baltischen Staaten 1919 aufgelöst.

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Die drei historischen baltischen Regionen Kur-, Liv- und Estland um 1877

In Lettland und Estland ist die über Jahrhunderte dauernde, wechselvolle deutschbaltische Geschichte durch weithin sichtbare Burgen, prächtige Schlösser (estn.: Loss, lett.: Pils) und Herrenhäuser (estn.: Mois, lett.: Muiza) unverkennbar. Seit dem 12. Jahrhundert überzogen der Schwertbrüderorden und später der Deutsche Orden (in dem der Schwertbrüderorden nach der entscheidenden Niederlage gegen die Litauer in der Schlacht von Schaulen 1236 aufging) zur Festigung seiner Macht und zur Verteidigung seiner eroberten Gebiete Preußen und Altlivland bis zu seinem Untergang in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit einem gewaltigen Netz an Festungen. Allein in Altlivland entstanden unter seiner Führung über 60 Burgen zum Schutz der vergleichsweise wenigen Deutschen in dieser Region. Nicht selten wurden die Burgen auf viel älteren Befestigungsanlagen der besiegten einheimischen Bevölkerung erbaut. Die Festungen verloren aber durch das Aufkommen effektiver Geschütze spätestens im 16. Jahrhundert ihre Bedeutung als militärische Einrichtung und wurden zu Wohnschlössern umfunktioniert oder nach Zerstörungen in Folge kriegerischer Auseinandersetzung nicht wiederaufgebaut und häufig als Steinbruch genutzt (z.B. Fellin / estn.: Viljandi). Die hinterlassenen Ruinen wandelten sich durch Romantisierung im 19. Jahrhundert zu touristischen Attraktionen und wurden durch alle neueren Zeiten hinweg wissenschaftlich untersucht, beschrieben und saniert. Infolgedessen finden sich viele und detailreiche Veröffentlichungen zum Thema. Die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse haben auch hier zu neuen Möglichkeiten der modernen Sanierungen geführt. Die livländischen Ordensburgen Treiden (lett.: Turaida) und Segewold (lett.: Sigulda) seien hier als Beispiel erwähnt.

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Die livländische Burg Treyden (lett.: Tureida) 2016

Die Zahl deutschbaltischer Adelsgüter wird zu deren Blütezeit Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts mit über 2000 angegeben. Die Deutschbalten, die nie einen höheren Anteil als etwa 10 Prozent an der Bevölkerung des Baltikums hatten, bestimmten das wirtschaftliche und politische Leben. Sie erbauten in vielen Fällen prachtvollste Anwesen, die ihren unglaublichen Reichtum und den damaligen architektonischen Geschmack in Europa wiederspiegelten.

Aber auch ein eigener baltischer, zweckmäßig-schlichter Baustil etablierte sich. Die Geschichte jener Adelshäuser geht teilweise bis in die Anfänge der Ordenszeit im Baltikum zurück und verweist auf große Namen, wie z.B. Buxhoeveden, Loringhoven, Uexküll oder Behr.

Im Gegensatz zum tragischen Ende Ostpreußens 1945 vollzog sich der Exodus deutscher Adelsfamilien und Gutsbesitzer in den baltischen Ländern schon bedeutend früher und in mehreren Schritten. Zar Alexander III. startete Ende des 19. Jahrhunderts die „Politik der Russifizierung“ und schränkte die auf das Privilegium Sigismundi Augusti von 1561 zurückgehende, über Jahrhunderte bewilligte Autonomie der unter russischer Herrschaft lebenden Deutschbalten ein. Viele, eigentlich dem Russischen Reich loyal eingestellte deutschbaltische Familien verließen daraufhin das Baltikum und kehrten in das Deutsche Reich zurück, von wo sie teils vor Jahrhunderten ausgezogen waren. Die erste russische Revolution 1905 / 1906 und die mit ihr einhergehende Nationalbewegung richtete sich auch gegen die wohlhabenden Deutschen im Baltikum. In deren Verlauf wurden viele Herrensitze zerstört und zahlreiche Deutsche ermordet.

Mit dem I. Weltkrieg und den folgenden revolutionären Umstürzen in Russland (und somit auch im Baltikum) endete schließlich der prägende Einfluss deutscher Adelsfamilien nach mehr als 700 Jahren. 1920 erklärten sich die baltischen Regionen für unabhängig und gründeten die neuen Staaten Eesti und Latvia. Die Grenze zwischen den beiden Staaten wurde nun deutlich südlicher an der Sprachgrenze gezogen. Damit hörten die alten baltischen Provinzen Kur-, Liv- und Estland auf zu existieren. Adliger Besitz wurde durch die neuen Nationalregierungen rigoros enteignet oder sehr stark eingeschränkt. Viele Familien verließen daher finanziell ruiniert das Baltikum und überließen ihre Besitztümer den neuen Machthabern. Es kam vielerorts zu Plünderungen und Zerstörungen deutscher Besitzungen. Darauf folgte eine kurze Zeit der verhältnismäßigen Ruhe und des zweckmäßigen Nebeneinanders zwischen den verbliebenen Deutschen und der unabhängigen lettischen und estnischen Bevölkerung. Sie endete abrupt 1939 / 1940 als die Sowjetunion kurzerhand die baltischen Staaten besetzte und auch die restlichen Deutschbalten mit Billigung des Deutschen Reiches durch das geheime Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Pakt das Land verlassen mussten.

Bis zum Ende der Sowjetzeit wurden erhaltene Schlösser und Herrenhäuser meist als soziale Einrichtung, Museum, Hochschule oder als Verwaltungsgebäude durch z.B. landwirtschaftliche Betriebe oder das Militär (z.B. Alt-Nursen / estn.: Vana-Nursi) genutzt. Ähnlich wie in Ostpreußen fielen Sanierungen und Umbauten durch ideologische und ökonomische Zwänge oftmals nur zweckorientiert aus. Dabei gingen viele architektonische Details verloren.

Mit dem Ende der sozialistischen Ära standen auch viele dieser Einrichtungen vor dem Aus. Diese Anwesen (z.B. Burtneck / lett.: Burtnieki oder Groß-Born / lett.: Lielbornes) wurden sich selbst überlassen und waren nun dem Verfall preisgegeben. Prominente Schlösser (z.B. Katharinenthal / estn.: Kadriorg in Tallin) wurden jedoch teils mit europäischer Hilfe prachtvoll saniert. Mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Aufschwung der baltischen Staaten, insbesondere Estlands, werden mehr und mehr auch kleinere Herrenhäuser (z.B. Buxhoeveden / estn.: Neeruti, oder Fegefeuer / estn.: Kiviloo) interessant für private Investoren und durch sie aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt und saniert.

Die Begegnung mit den Spuren der deutschbaltischen Vergangenheit fällt unterschiedlich aus. Die prachtvoll sanierten Schlösser, die heute als Museum, Schule, Gemeindeverwaltung oder anderweitig genutzt werden, springen sofort ins Auge und sind zudem gut ausgeschildert. Im Rahmen dieser Sammlung seien sie im Titel durch den Begriff „Unlost Places“ vertreten.

Interessanter sind die versunkenen, leerstehenden Häuser oder deren Ruinen, die zum Teil in undurchdringlichem Dickicht fernab der touristischen Wege dahindämmern. Viele dieser ruinösen Anwesen (z.B. Anspock / lett.: Anspoki, Penneküll / lett.: Penuja oder Lodensee / estn.: Klooga) tauchen kaum noch in Veröffentlichungen auf, sind schwer erreichbar und drohen, aus der Geschichte zu fallen. Damit sind sie melancholische Vertreter der erst in heutigen Tagen definierten Kategorie der „Lost Places“.

 

Durchstreift man die verlassenen und verfallenen Räume der teils noch bis in die 1990er Jahre genutzten Häuser, so lässt sich die einstige Pracht oft anhand der stuckverzierten Decken, geschwungenen Treppenaufgänge oder gewaltigen Kellergewölben erahnen.

 

Häufig jedoch sind die eigentlichen Herrenhäuser zerstört und es weisen nur noch erhaltene Nebengebäude, alte Alleen oder ungewöhnliche Baumansammlungen in der weiten baltischen Landschaft auf einstige herrschaftliche Güter hin. Das Auge des Suchenden wird beim Bereisen der Gegend regelrecht sensibel für derartige Anzeichen.

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Das Herrenhaus Hördel (estn.: Horeda) 2016

Das aufstrebende Estland hat vorbildlich seine Herrenhäuser und Schlösser erfasst und ausgeschildert, egal in welchem Zustand sie sich befinden. Diverse Bücher, spezielle Karten und Kataloge in verschiedenen Sprachen und mit unterschiedlichem Schwerpunkt sind zum Thema in jüngster Zeit in Estland verlegt worden. Im Internet gibt es umfangreiche Sammlungen zum Thema. Selbst Navigationsgeräte zeigen diese Orte exakt an obwohl die Straßenführung dorthin zum Teil abenteuerlich ist. Lettland gab sich lange Zeit etwas weniger Mühe, diese deutschbaltischen Hinterlassenschaften dem interessierten Touristen zugänglich zu machen. Nur auffallende und bedeutende Anlagen werden ausgeschildert. Auch bei Veröffentlichungen tat sich Lettland etwas schwerer. Nur weniges wurde über viele Jahre zu diesem Thema veröffentlicht, und oftmals wurde in Veröffentlichungen der Verweis auf ursprüngliche deutsche Namen vermieden. Das hat sich mit dem Start der umfassenden, mehrbändigen Enzyklopädie Vitolds Masnovskis im Jahr 2018 in hervorragender Weise geändert. In einer Hinsicht sind sowohl Estland als auch Lettland sensibel und scheuen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die dramatischen und teils gewalttätigen Umbrüche im Baltikum zwischen 1905 und 1920, die zum Ende des Deutschbaltentums führten, werden hinter globalen Begriffen wie „Landreform“ oder „Unabhängigkeitsbewegung“ versteckt.

 

Das vollständige Erfassen und Beschreiben der Schlösser, Burgen und Herrenhäuser ist eine fast unlösbare Aufgabe. Selbst umfangreiche Kataloge weisen Lücken auf. Bei einigen Herrenhäusern würde das Aufführen aller bekannten geschichtlichen Details ganze Bücher füllen. Bei anderen wiederum blieben die Seiten weitestgehend leer oder völlig lückenhaft. Der größer werdende Abstand zur deutschbaltischen Geschichte macht sich bei der Suche nach Informationen bemerkbar. Gerade die Recherche nach geschichtlichen Details kleinerer Güter und Anwesen ist in der modernen Literatur oder im Internet sehr schwierig. Vorhandene Angaben sind teils unscharf, unvollständig oder auch widersprüchlich. Hier stellen ältere Werke, wie z.B. von Hagemeister von 1837 oder Pirangs mehrbändiges Werk von 1928 unschätzbare Quellen dar. Auch Biografien und Monografien von Angehörigen des baltischen Adels helfen bei den Recherchen. Viele schriftliche oder bildliche Zeugnisse gingen jedoch in den Wirren der Geschichte verloren. Ein weiterer Informationsverlust wird sich wohl langfristig auch durch den Wechsel der Informationsspeicherung vom beständigen gedruckten Wort hin zum schnelllebigen Internet nicht aufhalten lassen. Zeitzeugen lassen sich kaum noch befragen. Selbst intensive Nachforschungen deutschbaltischer Familien, wie z.B. der Familie von Wahl zur eigenen Geschichte, bleiben zu deren Leidwesen auf Grund verlorengegangener Quellen unvollständig. Die vorliegende Sammlung unternimmt den Versuch, sich diesem Trend ein wenig entgegenzustellen.

 

Im Folgenden werden ausgewählte Objekte in kurzen Profilen beschrieben. Die mühsam zusammengetragenen Informationen entstammen im Wesentlichen den im Anhang aufgeführten Quellen oder eigenen Recherchen vor Ort. Hilfreiche Informationen kamen auch von Angehörigen deutschbaltischer Familien, die heute z.T. über die ganze Welt verstreut leben, oder von Arbeitsgemeinschaften, die sich z.B. mit der Feldpost aus dem I. Weltkrieg oder mit der Baltischen Adelsgeschichte auseinandersetzen. All jenen, die zum Wachsen dieser Sammlung beigetragen haben, sei an dieser Stelle noch einmal herzlichst gedankt.

Die jeweilige Zuordnung zu den historischen Gebieten Kur-, Liv- und Estland erfolgt nach der langanhaltenden staatlichen Ordnung zwischen 1721 und 1919. Die an die baltischen Provinzen angrenzende Gouvernements Witebsk, Pskow (dt.: Pleskau) und Sankt Petersburg waren ebenfalls reich an Burgen und Herrenhäusern. Ihnen ist ein separater Abschnitt gewidmet. In der Benennung der behandelten Orte ist zunächst der deutsche Name und in Klammern die heutige Bezeichnung angegeben. Die aktuelle staatliche Zuordnung ist ebenfalls aufgeführt.

 

Wo immer möglich wurde versucht, dem heutigen Zustand eine historische Darstellung auf zeitgenössischen Postkarten oder privaten Originalfotos gegenüberzustellen. Dabei sind die zahlreichen Feldpostkarten aus dem I. Weltkrieg trotz des tragischen Hintergrundes ihrer Entstehung ein wahrer Glücksfall. In jener Zeit war es üblich, Fotos aus den eroberten Gebieten in die Heimat zu schicken. Somit wurden viele Herrenhäuser -häufig letztmalig vor ihrer Zerstörung- im Bild festgehalten. Diese Fotokarten geben oft die einzige Möglichkeit einer historischen Ansicht und deren zeitliche Zuordnung. Aus militärischen Geheimhaltungsgründen wird häufig nur die Region aber nicht die genaue Bezeichnung des dargestellten Objektes angegeben. Somit gibt es leider in der vorliegenden Sammlung Ansichten von unbekannt gebliebenen Anwesen. In vielen weiteren Fällen blieb die Suche nach historischen Informationen und Darstellungen oder heutigen Überresten ergebnislos. Weitere Recherchen und Reisen in das Baltikum werden diese Lücken schließen und zum Wachsen dieser Sammlung beitragen.

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Zerstörter Gutshof in Kurland (Lettland)

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Inhalt: Vers. 2019-01