Das ehemalige Ostpreußen – jenes kleine, nur noch virtuell existierende Gebiet zwischen Weichsel und Memel am Rande der Europäischen Union, das sich Polen, Litauen und Russland mit samt seinem schweren Erbe durch mehr oder weniger willkürliche Grenzziehungen seit dem II. Weltkrieg teilen, war bislang nur eine trockene und diffuse Fußnote im persönlichen Geschichtswissen. Eine eher zufällige Reise reichte aus, um gerade den polnischen Teil seine heutigen Bewohner in das Herz zu schließen. Bei späteren literarischen Spurensuchen blieb nur festzustellen, dass selbst berühmte Persönlichkeiten auch ohne direkten Bezug zum Land und seiner Historie dem gleichen Phänomen verfielen. Worin liegt diese Anziehungskraft begründet?
A - F
G - I
J - L
M - Q
R - S
T - Z
Vor allem bei einem ersten Besuch offenbart sich dem an modern-hektisches und geordnetes Leben gewöhnte Auge eine Region, die lange Jahrzehnte konserviert hinter Systemgrenzen vor sich hindämmerte und somit Strukturen, Landschaften und Tempi einer vergangenen Zeit aufbewahrte - eine Region, die uns an Bilder und Stimmungen unserer Kindheit erinnert und seltsam vertraut scheint. „Dank“ fehlender ökonomischer Kraft hat sich in vielen Teilen das Flair bis heute bewahrt, befindet sich jedoch deutlich auf dem Rückzug. Das westliche Europa streckt seine Hand aufbauend, ordnend und beschleunigend mit Autobahnen, Aufbaukonzepten und Reklametafeln bis an die Grenzen Russlands aus. Das weckt den Beschützerinstinkt!
Sicherlich ist es auch die noch immer mal mehr, mal weniger präsente Tragik der Historie, die zur Faszination beiträgt. Auf diesem kleinen Raum wurde über Jahrhunderte europäische Geschichte geschrieben, verloren und neu begonnen. Spuren der versunkenen preußisch-deutschen Vergangenheit, die zaghaft Anfang des 13. Jahrhunderts begann und abrupt mit dem Exodus 1945 endete, begegnet dem Besucher in vielfältiger Form, mal als Ruine eines alten Herrensitzes, als einsamer und verwilderter Heldenfriedhof, als trutzige Ordensfestung oder auch als prachtvoll restauriertes, historisches Stadtzentrum.
Ein weiteres Phänomen ist die einmalige Natur. Auf vergleichsweise wenigen Quadratkilometern vereinen sich einsame und raue Küstenregionen vom frischen Haff über die Samlandküste bis hin zur Kurischen Nehrung, Heidelandschaften der Elchniederung, Urwälder der Rominter Heide und endlose, hügelige Ackerlandschaften. Jedes Detail ist aus anderen Regionen Europas bekannt und dennoch findet man nirgends alles so kompakt vereint.
Und natürlich Masuren! - jene entrückte Region an der Grenze zwischen Polen und dem russischen Kaliningrad. Wem mag nicht das Herz aufgehen beim Anblick von unzähligen verträumten, versteckten Seen inmitten von endlosen Wäldern und Feldern alles getaucht in schattenreiches Licht? Was vermag den Fotografen mehr zu inspirieren als weit in eine herbstliche Hügellandschaft gestreute Bauernhöfe und darüber tief dahinsegelnde Wolken an einem hohen, blauen Himmel…?
Trotz aller Nachforschungen ergibt Masuren kein scharf umrissenes Gebiet. Dennoch scheint sich die Region zwischen Pisz (dt.: Johannisburg) und Wegorzewo (dt.: Angerburg), zwischen Mragowo dt.: Sensburg) und Elk (dt.: Lyck) bei einem Besuch selbst anzukündigen. Aus der endlosen, flachen Weichseltiefebene kommend an Ostroda (dt.: Osterode) und Olsztyn (dt.: Allenstein) vorbei wird die Landschaft wellig, die Bäume rücken näher an die Straße und bilden bedrohliche Spaliere, erste Seen grüßen glitzernd... Masuren war innerhalb des an sich schon durch geschichtliche Umstände geschlossenen, abgelegenen Ostpreußens noch einmal etwas Besonderes. Zeitzeugen von damals sprechen noch heute aus ihrer Erinnerung über Masuren als etwas fast Autarkes. Diese Autarkie scheint bis heute weiter zu existieren.
Den Zauber in all seinen Facetten einzufangen ist ein fast unlösbares Unterfangen. Dennoch sollen die folgenden Seiten durch das Darstellen von Lost Places und Unlost Places ein wenig den Grund für die Anziehungskraft jener Region in Bildern und erklärenden Worten vermitteln.